Abiturrede 2016 - Beginn der Reformation

Abiturrede 2016



Die Schulen waren Hölle und Fegefeuer, in der wir gemartert wurden mit casus und tempora und wir doch nichts und ganz und gar nichts gelernt haben mit soviel Prügeln, Zittern, Angst und Jammer.“


Als ich nach dem berühmten roten Faden für die heutige Rede suchte, kam mir die Idee mich nicht erst im Reformationsjubiläumsjahr 2017 mit der Grundlegung der Ideen der Evangelischen Kirche zu beschäftigen, sondern dies im Sinne einer Fortsetzungsgeschichte zu tun, sodass ich mich bereits hier und heute im Abiturjahrgang 2016 mit den Ereignissen vor dem Jahr 1517, dem Thesenanschlag zu Wittenberg, beschäftigen möchte. Natürlich kommt hier zum Tragen, dass ich selbst neben Evangelischer Religion auch das Fach Geschichte unterrichte und mir das Thema von daher persönlich nahe und am Herzen liegt. Aus all dem ergibt sich logisch, dass das Eingangszitat das Schulleben zur Schulzeit Martin Luthers kennzeichnet und auch von ihm selbst stammt und hoffentlich NICHTS mit der Lebenswirklichkeit an der EGG zu tun hatte und zu tun haben wird.



Liebe Eltern und Großeltern, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, vor allem aber liebe Schülerinnen und Schüler unseres zehnten Abiturjahrgangs an der EGG.

Als Schulleiter der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck begrüße ich sie alle herzlich zur diesjährigen festlichen Abschlussfeier unserer Abiturienten. Alle Menschen, die in unserem vollbesetzten Theater sitzen haben einen Grund gemeinsam zu feiern, also: Herzlich willkommen!

Erstmals musste ich übrigens darauf achten, dass ich etwas anderes thematisiere als beim 10er-Abschluss – eine solche Doppelung habe ich erstmals in meinem vierten Amtsjahr als Schulleiter und sicherlich wisst ihr noch ganz genau, worum es damals ging! (Seesack mit Dingen, die fürs Leben wichtig sein können)





Betonen möchte ich an dieser Stelle auch, dass es mir Leid darum tut, dass euer schön geplanter Abistreich regelrecht ins Wasser gefallen ist, aber auch das wird in der Historie der Schule vermutlich langfristiger im Gedächtnis haften bleiben als ein gelungener Abistreich.


Übrigens lag meine heutige religionsgeschichtliche Schwerpunktsetzung nahe, denn meine beiden Zusatzkurse im Jahrgang 13 mussten sich über einige Wochen hinweg detailliert argumentativ mit Artikel 7 der Landesverfassung auseinander setzen, der auch jedem einzelnen schulischen Lehrplan in NRW vorangeschaltet ist und der folgenden Inhalt hat:

Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung.“

Intensiver als dies manchmal in strikter abiturgeleiteten Kursen möglich ist, haben wir uns hier mit den verschiedenen politischen Perspektiven auseinandergesetzt um insbesondere zu klären, was hier „Ehrfurcht vor Gott“ meint und welche unterschiedlichen Erklärungsansätze es aus politischer, philosophischer und theologischer Perspektive gibt. Und natürlich hat das auch viel mit der Kirchengeschichte der Reformation zu tun, wenn dieser Leitsatz seit 1950 so in unserer Landesverfassung verankert ist und auf diese Weise eine Verknüpfung von Glaube und Erziehung bindend für alle Unterrichtsfächer an allen Schulen in NRW gezogen wird.

Martin Luther, der übrigens als Martin Luder geboren worden war und diesen Namen auch noch bis November 1517 trug, sagte dazu (zwar erst 1530), aber ein Sprung über 1517 hinaus wird mir hoffentlich verziehen, folgendes:


Denn ich weiß, dass dies Amt des Pädagogen nächst dem Predigtamt das allernützlichste, größte und beste ist, und weiß dazu noch nicht, welches unter beiden das bessere ist.“


oder auch:


Wenn die Schulen zunehmen, dann steht’s wohl im Land.“

Die Reformation in Deutschland ist nach Auffassung heutiger Historiker eingebettet in eine innenpolitische Veränderungssituation seit 1500. Es verändern sich demnach Wirtschaft, Politik und Bildungswesen mit einer bis dahin unbekannten Dynamik. Bei aller unbestreitbaren Originalität waren Luther und seine evangelische Lehre doch auch Ausdruck dieses Aufschwungs. Und die rasche Ausbreitung seiner Gedanken hing entscheidend vom noch jungen Buchdruck oder der ersten „Medienrevolution“ der Neuzeit ab, wie die dadurch hervorgerufene Kommunikationsverdichtung heute gerne genannt wird. Als Auswirkung auf das Informationswesen jener Zeit sicherlich vergleichbar der heutigen Erfindung des Internets. Vor allem hätte er sich kaum vor den Großen des Reiches behaupten und die Reformation auf den Weg bringen können, ohne die Blüte der deutschen Wirtschaft, vor allem des Montangewerbes, und schon gar nicht ohne den bereits Jahrzehnte früher einsetzenden Aufstieg des frühmodernen Fürstenstaates. Denn in den entscheidenden Momenten der Reformation nach 1517 hing alles vom Schutz seines sächsischen Landesherrn und seinem durch die Montaneinnahmen bestens finanzierten frühmodernen Staates ab (Schilling, S. 49).

Bei dieser Abhängigkeit ist es umso erstaunlicher wie weit Luther seinen Mund aufreißt, wenn er formuliert:


Es ist aber in einer Stadt ebensoviel an einem Schulmeister gelegen wie an einem Pfarrer. Auf Bürgermeister, Fürsten und Adel können wir verzichten; auf Schulen aber kann man nicht verzichten.“


Martin Luders Kindheit und Schulzeit waren übrigens vom ökonomischen Erfolg und der damit einhergehenden Reputation seines Vaters bestimmt. Er unterstützte Martins Ausbildung, da dieser als ältester Sohn durch sein Jurastudium den sozialen Aufstieg der Familie absichern sollte. Trotz dieser Unterstützung waren die Schul- und Studentenjahre hart und entsagungsreich. So musste Martin im Rahmen seiner Ausbildung in Magdeburg und Eisenach „um sein Brot singen“, d.h. seinen Lebensunterhalt teilweise durch Betteln bestreiten.





Vielleicht stammt aus dieser Zeit auch der Ausspruch Luthers:


Die größere Menge der Eltern … weiß nicht, wie man Kinder erziehen und lehren soll. Denn sie haben selber nichts gelernt, außer den Bauch zu versorgen. Und es gehören besondere Leute dazu die Kinder wohl und recht zu lehren und zu erziehen.“


Beharrlichkeit ist wohl das was Luther in dieser Zeit am meisten ausmacht. Biographisch festmachen lässt sich das an seinem Versprechen ins Kloster zu gehen, nachdem er einen Gewittersturm bei Stotternheim in der Nähe von Erfurt überstanden hatte. Obwohl nach damaligem katholischem Recht Verpflichtungen, die man in Extremsituationen eingegangen war nicht bindend waren und ihn seine juristischen Mitstudenten darauf auch eindringlich und sachkundig hinwiesen, blieb er bei seinem Gelübde ins Kloster zu gehen.


Geprägt von diesem Entschluss wird dann in den folgenden Jahren sein Bibelinteresse in Analogie zu den radikalen Forderungen der Humanisten stehen zu den Quellen der Antike vorzustoßen – eine Tendenz die sich für den Kenner von Umberto Ecos immer noch herausragendem Roman „Der Name der Rose“ kulminierend in der Hauptfigur des William von Baskerville bereits seit dem 14. Jahrhundert abzeichnet – nur, dass sich dies bei Martin Luder selbstverständlich auf die Quellenbasis des Christentums bezog. So formuliert er 1520:


Viele Bücher machen nicht gelehrt, viel lesen auch nicht, sondern gute Dinge und oft lesen, wie wenig es auch ist, das macht gelehrt in der Schrift und fromm dazu.“


Ganz grundsätzlich lässt sich dabei festhalten, dass es ihm Zeit seines Lebens um einen gebildeten Glauben geht, einen Glauben, der verstehen will, nachfragen darf, auch was das Buch des christlichen Glaubens betrifft, die Bibel. Das ist bis in unsere heutige Gegenwart gut so, denn Fundamentalismus jedweder Couleur mag Bildung und Aufklärung nicht.

Dabei, das ist zu betonen, dass Martin Luder nicht als einsamer Mönch oder isolierter Buchgelehrter im akademischen Elfenbeinturm zum Reformator heranwuchs. Er stand in regen Beziehungen und geistigem Austausch zu Menschen aus allen Einwohnerkreisen, ob am Hofe, im Austausch zwischen den Universitäten oder den Bürgern innerhalb der Stadt Wittenberg, insbesondere seitdem er dort ab 1513 auch Prediger in der Stadtkirche geworden war und Einfluss nehmen konnte:


Iß, was gar ist,

trink, was klar ist,

red, was wahr ist.“


war dabei sein Leitspruch.


Ich weiß wohl um die Erwartungen, die man als Schüler, Eltern und Kollege an eine Abschlussrede hat. Ob ich aber hier und jetzt allen Erwartungen gerecht werden kann, weiß ich allerdings nicht. Martin Luther hat das für sich aber folgendermaßen fixiert:


Eines guten Redners Amt oder Zeichen ist, dass er aufhöre, wenn man ihn am liebsten höret“


Womit ich mich endgültig meinen vorrangigen Adressaten zuwenden möchte, denn vermutlich habt ihr euch so oder ähnlich in dem einen oder anderen Einzelfalle auch in Richtung des die Unterrichtsstunde beendenden Schulgongs gesehnt. Nun habt ihr, die ihr teilweise seit dem August 2003, diese Schule belebt habt, das Ende eurer Schullaufbahn beendet – übrigens habt ihr dabei deutlich mehr Unterrichtsfächer kennenlernen dürfen als unser junger Martin Luder, denn damals gab es nur die Pflichtfächer Grammatik, Rhetorik, Logik, Deutsch und Latein.


Mir sitzen heute insgesamt 85 Abiturientinnen und Abiturienten gegenüber, allein 9 davon mit einem Einserschnitt, die insgesamt einen Abiturdurchschnitt von 2,61 erreicht haben. Obwohl dieser Gesamtdurchschnitt aller Abiturienten an der EGG nicht so gut ist wie in den letzten vier Jahren gehen wir doch davon aus, dass wir an der EGG auch in diesem Jahr wieder besser sind als der errechnete Landesdurchschnitt aller Gesamtschulen in NRW.


Und dabei ist nur eine Minderheit von euch nach der Grundschule mit einer reinen gymnasialen Empfehlung an der EGG oder anderen Schulen gestartet, denn insgesamt erhalten heute 3 Schülerinnen und Schüler das Abitur die ursprünglich lediglich eine Hauptschulempfehlung erhalten hatten und 59 unserer heutigen Abiturienten gingen mit einer Realschulempfehlung von der Grundschule ab. Insgesamt haben also in diesem Jahrgang 73% aller Schülerinnen und Schüler ihr Abitur abgelegt, die normalerweise keinen Zugang an einem Gymnasium gefunden hätte – eine eindrucksvolle Ziffer! Dabei belegt die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit Realschulempfehlung auch erstaunlicherweise die notenbesten 10 Zeugnisse dieses Abiturjahrgangs, auch das ein Zeichen der Durchlässigkeit des Gesamtschulsystems.


Wir entlassen euch ins nachschulische Leben und ein Moment wie dieser ist immer etwas Besonderes und lässt vermutlich alle nicht kalt. Schon die Anrede macht das bewusst. Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, habe ich vorhin gesagt, und damit die letzte Gelegenheit genutzt, als euer Schulleiter zu euch zu reden.

Wenige Minuten noch, und alle Beziehungen zwischen euch und dieser Schule und ihren Menschen werden ergänzt oder ersetzt durch Wörter wie „ehemalig“ oder „früher“. Meine ehemalige Schule. Mein früherer Schulleiter, Oberstufenleiter, meine frühere Beratungs- oder Englischlehrerin.

Ich wünsche euch, dass eure Zeit an der EGG irgendwann rückblickend zu den guten Zeiten eures Lebens gehören mag und dass ihr weitere gute Zeiten in der Zukunft folgen mögen, auch dann wenn ihr euch gemäß des Mottos eures Abiturgottesdienstes - auf den Weg danach macht in eurem weiteren Leben für eine gerechte Gesellschaft einzutreten. Ihr habt diese Schule mit Leben gefüllt. Ich sage im Namen der EGG: Herzlichen Dank!

Sie, liebe Eltern haben ihre Kinder zu unterschiedlichen Zeiten an die EGG angemeldet und ihre Erwartungen mögen von daher unterschiedlich gewesen sein. Wer sein Kind vor 9 Jahren hier angemeldet hat, hat eine andere Geschichte mit unserer Schule als derjenige, der die EGG erst in der Oberstufe kennen gelernt hat. Ich hoffe, Sie hatten selten Grund, an Ihrer Entscheidung zu zweifeln und Sie sind heute mehr denn je überzeugt, dass diese Entscheidung nicht schlecht war. Wir bedanken uns bei Ihnen für das geschenkte Vertrauen.



Vielleicht wollen trotzdem einige von Ihnen unsere Schule weiterhin unterstützen, indem sie einfach Mitglied im Förderverein bleiben – das wäre eine schöne und erfreuliche Geste. Vielleicht möchten Sie auch zukünftig zu besonderen Veranstaltungen eingeladen werden (Konzerte, Feste); deswegen geht während der Feierlichkeiten eine Liste herum, in der sie sich mit ihrer Mailadresse eintragen können und zukünftig gezielt eingeladen werden.

Bedanken möchte ich mich in aller Namen, denke ich, auch bei den Lehrerinnen und Lehrern, die im Laufe der Jahre euch bzw. Ihre Kinder begleitet haben. Für deren Engagement, Langmut, Freundlichkeit und Anteilnahme. Dafür, dass sie in euch mehr gesehen haben als Schülermaterial, mit dem zu arbeiten war. Dass sie euch als Individuen wahrgenommen haben und zu fördern suchten und sich bemüht haben, euch gerecht zu werden.


Auch zu der Arbeit der Lehrerinnen und Lehrern hat Martin Luther - eine recht ungewöhnliche – Aussage getätigt:


Wenn einer ungefähr zehn Jahre im Schuldienst gewesen ist, dann kann er mit gutem Gewissen aufhören, denn die Arbeit ist groß und wird ein wenig zu gering geachtet.“


Wo wir euch Schülerinnen und Schülern etwas schuldig geblieben sind oder uns aus eurer Sicht schuldig gemacht haben, hoffen wir auf Nachsicht und Verzeihen, wir sind darauf genauso angewiesen wie jeder andere Mensch auch.


Ihnen, liebe Eltern, waren Ihre Kinder nicht einerlei. Und wir Lehrer fühlten uns mit Ihnen verantwortlich für die Erziehung und Bildung Ihrer

Kinder. Dass es das Ziel eurer Lehrer an der EGG war, euch neben Wissen auch Werte und Weisheiten zu vermitteln und euch damit fit für das Leben zu machen, mögt ihr mir glauben.


Ihr alle, die Ihr gleich eure Zeugnisse bekommt, habt etwas geleistet und durch eure jeweilige Anstrengung auch zu den Leistungen der anderen beigetragen. Niemand lernt für sich allein, und wo Lernen an der EGG gelingt, sind immer viele beteiligt: die Lehrkräfte, die Klassengemeinschaft, in der sich konkurrierend aber ohne Konkurrenzdruck, im leistungsfördernden Wettbewerb aber ohne bissige Rivalität etwas entwickeln kann.

Aus diesem Grund möchte ich auch in diesem Jahr stellvertretend für alle hier Sitzenden eine Schülerin nach vorne bitten: Imke Apel

Ich gebe dir stellvertretend für euch alle ein kleines Buchpräsent mit auf den Weg, in das ich – obwohl die Zeugnisse erst gleich verteilt werden – folgende Zeilen hineingeschrieben habe:

Herzlichen Glückwunsch zum besten Abitur an der EGG im Abschlussjahr 2016. Ich wünsche dir viel Erfolg und Gottes Segen auf deinem weiteren Weg – VF“ (Note: 1,0)

Das Buch: „Eine kleine Geschichte des Abiturs“ soll dich an den heutigen Tag der Ausgabe der Abiturzeugnisse erinnern.

Auch ihr seid jetzt ein Teil der „Geschichte des Abiturs“ und das wollen wir mit gutem Grund heute feiern. Und mit eurem jetzigen Know-how über die ersten Lebensjahre Martin Luthers könnt ihr beruhigt ins Reformationsjubiläumsjahr gehen. Anders als den verbleibenden Lehrerinnen und Lehrern sowie den Schülerinnen und Schülern bringt dieses Jubiläum euch auch einen einmaligen Feiertag am 31. Oktober 2017 – für uns sind dort nur die Herbstferien.


In diesem Sinne verabschiedet sich die EGG in Dankbarkeit und Respekt von ihren Schülerinnen und Schülern und deren Eltern. Genießt diesen Tag und bleibt uns über diesen Tag hinaus verbunden!


Und um mit Luthers These für eine gelungene Rede zu enden:

Tritt fest auf, mach’s Maul auf, hör bald auf.“

Danke!





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