Abiturrede 2020 – Umberto Eco: Der Name der Rose
Liebe Eltern und Verwandte, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, vor allem aber liebe Schülerinnen und Schüler unseres vierzehnten Abiturjahrgangs an der EGG.
Als Schulleiter der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck begrüße ich euch und sie alle herzlich zur diesjährigen Zeugnisübergabe unserer Abiturienten. Ungewöhnlich natürlich, weil wir diese erstmals coronabedingt in drei geteilten Gruppen und einem ungewohnten Ort durchführen. Alle Menschen, die in unserem vollbesetzten Theater sitzen haben aber trotzdem einen Grund gemeinsam zu feiern, also: Herzlich willkommen!
Da meine Abiturrede in diesem neuen Setting kürzer als sonst ausfallen muss, werde ich sie fokussieren auf ein einziges Buch – aber ich warne, es ist mein Lieblingsbuch: Der Name der Rose von Umberto Eco, Anwesenden vielleicht auch durch seine Verfilmung mit Sean Connery bekannt.
Am Ende des Schuljahres befasse ich mich immer aufgrund der nah aufeinander folgenden Termine der Abschlussfeiern gedanklich mit einem neuen Thema, das möglichst drei Aspekte erfüllen sollte und hierzu habe ich übrigens das Buch samt Nebenwerke erneut gelesen und beide Verfilmungen angeschaut:
Es muss mir Freude bereiten, denn ich investiere einige Zeit der Vorbereitung darin. Das ist natürlich bei dem eigenen Lieblingsbuch von vorneherein als gegeben anzunehmen.
Es sollte sich um etwas drehen, was ansatzweise – zumindest einige der Zuhörer – zum Nachdenken anregt. Vielleicht passt hierzu folgendes Buchzitat: „Wer nicht liest wird mit 70 Jahren nur ein einziges Leben gelebt haben: Sein eigenes. Wer liest, wird 5000 Jahre gelebt haben (…) Denn Lesen ist eine Unsterblichkeit nach hinten.“ (Interview von Umberto Eco, zitiert nach Wikipedia)
Und drittens sollte das Gesagte unmittelbar oder über Umwege etwas mit Schule bzw. Bildung zu tun haben, denn das ist ja der Boden auf dem wir uns bewegen. Das ist in einem Buch, indem es auch intensiv um andere Bücher geht natürlich der Fall. Ich zitiere Umberto Eco: „Bücher sind nicht dazu da, dass man ihnen blind vertraut, sondern dass man sie einer Prüfung unterzieht. Wenn wir ein Buch zur Hand nehmen, dürfen wir uns nicht fragen, was es besagt, sondern was es besagen will.“ (405)
Umberto Eco, der Autor des Buches „Der Name der Rose“, welches 1984 erschienen ist, ist ein italienischer Professor für Semiotik und Kenner des Mittelalters. Er verstarb 2016 mit 84 Jahren.
Wegen seiner Fachkenntnisse spielt das Buch auch im Mittelalter, denn Umberto Eco sagt in der Nachschrift zu seinem Werk: „Die Gegenwart kenne ich nur aus dem Fernsehen, über das Mittelalter habe ich Kenntnis aus erster Hand.“ (Nachschrift 22)
Und wie ihr wisst, kann Geschichte ein sehr spannendes Feld sein, vor allen Dingen dann, wenn man sich – so wie in diesem Werk – tief darin hineinfallen lassen kann. Dabei unternimmt der Autor einen Trick, denn er tut so, als ob es sich um einen Kriminalfall handelt – ich zitiere ihn selbst: „Nicht zufällig fängt das Buch an als ob es ein Krimi wäre (und täuscht den naiven Leser auch weiterhin, bis zum Schluss, weshalb er womöglich gar nicht merkt, dass es sich hier um einen Krimi handelt, in dem recht wenig aufgeklärt wird und der Detektiv am Ende scheitert).“ (Nachschrift 63)
In Wahrheit geht es aber um Bücher, um Rätsel und Zeichen, um Liebe und das Lachen und um Philosophie und Theologie, also auch um Welterkenntnis, wenn ich den Mönch William von Baskerville sagen höre: „Das ist wie mit dem Gesetz der Welt. Gott kennt es, weil er die Welt, bevor er sie schuf, in seinem Geist konzipierte, also gleichsam von außen ersann. Wir Menschen dagegen erkennen es nicht, weil wir in der Welt leben und sie bereits fertig vorfinden.“
Ob ich in der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit hier und jetzt allen Erwartungen in Qualität und Quantität, in Gelehrsamkeit und Spannung einer Abituransprache gerecht werden konnte, mag ich nicht entscheiden. Umberto Eco würde hier vielleicht sagen lassen: „Ja, wir sind Zwerge, (…) aber Zwerge, die auf den Schultern der Riesen von einst sitzen, und so können wir trotz unserer Kleinheit manchmal weiter sehen als sie.“ (114)
Aber immer geht es auch um lebenslanges Lernen – bei euch in oder ich hoffe vor allem noch nach eurer Schulzeit; im Namen der Rose in einer klösterlichen Gemeinschaft in der die einen Wissen allein kopieren, die anderen – aus ihrer Sicht unheilvolles - Wissen vor anderen zu verbergen suchen und die dritten, einen Diskurs um das Wissen in Gang zu bringen versuchen. Und ich hoffe, dass ihr zu der letzten Gruppe gehören werdet, denn diese Fähigkeit wird – so ist meine Meinung - in unserer Gesellschaft in Zukunft noch wichtiger werden.
Meine sehr verehrten Gäste: Mir sitzen heute insgesamt 88 Abiturientinnen und Abiturienten gegenüber, allein 17 davon mit einem Einserschnitt, was ein ziemlich guter Wert ist; alle zusammen haben insgesamt einen Abiturdurchschnitt von 2,47 erreicht, was immerhin der zweitbeste Gesamtdurchschnitt ist, den wir an der EGG bislang hatten. Und dies ist umso überraschender, als dass wir auch einige Misserfolge in den vierten Abiturfachprüfungen zu verzeichnen hatten sowie zahlreiche weitere Prüfungen nach den Klausuren erfolgen mussten. Wir gehen jedoch davon aus, dass wir an der EGG auch in diesem Jahr (wie bislang immer!) besser sind als der errechnete Landesdurchschnitt aller Gesamtschulen in NRW.
Und dabei ist nur eine Minderheit von euch nach der Grundschule mit einer reinen gymnasialen Empfehlung an der EGG oder anderen Schulen gestartet, denn insgesamt erhalten heute 5 Schülerinnen und Schüler das Abitur die ursprünglich nach dem 4. Schuljahr lediglich eine Hauptschulempfehlung erhalten hatten (darunter eine Schülerin mit dem Notendurchschnitt von 1,7) und 42 unserer heutigen Abiturienten gingen mit einer Realschulempfehlung von der Grundschule ab (darunter eine Schülerin mit dem Notendurchschnitt von 1,2). Insgesamt haben also in diesem Jahrgang 53,4% aller Schülerinnen und Schüler ihr Abitur abgelegt, die normalerweise keinen Zugang an einem Gymnasium gefunden hätten – eine eindrucksvolle Ziffer! Daneben haben wir mit 28% den bislang dritthöchsten Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund zu verzeichnen.
Wir entlassen euch ins nachschulische Leben und ein Moment wie dieser ist immer etwas Besonderes und lässt vermutlich alle nicht kalt. Schon die Anrede macht das bewusst. Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, habe ich vorhin gesagt, und damit die letzte Gelegenheit genutzt, als euer Schulleiter zu euch zu reden.
Wenige Minuten noch, und alle Beziehungen zwischen euch und dieser Schule und ihren Menschen werden ergänzt oder ersetzt durch Wörter wie „ehemalig“ oder „früher“. Meine ehemalige Schule. Mein früherer Schulleiter, Oberstufenleiter, meine frühere Beratungs- oder Deutschlehrerin.
Ich wünsche euch, dass eure Zeit an der EGG irgendwann rückblickend zu den guten Zeiten eures Lebens gehören mag und dass ihr weitere gute Zeiten in der Zukunft folgen mögen. Ihr habt diese Schule mit Leben gefüllt. Ich sage im Namen der EGG: Herzlichen Dank!
Sie, liebe Eltern haben ihre Kinder zu unterschiedlichen Zeiten an die EGG angemeldet und ihre Erwartungen mögen von daher unterschiedlich gewesen sein. Wer sein Kind vor 9 Jahren hier angemeldet hat, hat eine andere Geschichte mit unserer Schule als derjenige, der die EGG erst in der Oberstufe kennen gelernt hat. Ich hoffe, Sie hatten selten Grund, an Ihrer Entscheidung zu zweifeln und Sie sind heute mehr denn je überzeugt, dass diese Entscheidung nicht schlecht war. Wir bedanken uns bei Ihnen für das geschenkte Vertrauen.
Vielleicht wollen trotzdem einige von Ihnen unsere Schule weiterhin unterstützen, indem sie einfach Mitglied im Förderverein bleiben – das wäre eine schöne und erfreuliche Geste. Vielleicht möchten Sie (oder ihre Kinder) auch zukünftig zu besonderen Veranstaltungen eingeladen werden (Konzerte, Feste); deswegen liegt heute eine Liste aus, in der sie sich mit ihrer Mailadresse eintragen können und zukünftig gezielt durch mich, aber maximal dreimal im Jahr per Mail eingeladen werden. Bislang habe ich hierfür knapp 250 Alumniadressen gesammelt.
Bei diesem digitalen Thema kann ich auch noch kurz etwas zur Neugestaltung der Homepage sagen:
Bedanken möchte ich mich in aller Namen, denke ich, auch bei den Lehrerinnen und Lehrern, die im Laufe der Jahre euch bzw. Ihre Kinder begleitet haben. Für deren Engagement, Langmut, Freundlichkeit und Anteilnahme. Dafür, dass sie in euch mehr gesehen haben als Schülermaterial, mit dem zu arbeiten war. Dass sie euch als Individuen wahrgenommen haben und zu fördern suchten und sich bemüht haben, euch gerecht zu werden und dabei authentisch geblieben sind.
Wo wir euch Schülerinnen und Schülern etwas schuldig geblieben sind oder uns aus eurer Sicht schuldig gemacht haben, hoffen wir auf Nachsicht und Verzeihen, wir sind darauf genauso angewiesen wie jeder andere Mensch auch.
Ihnen, liebe Eltern, waren Ihre Kinder nicht einerlei. Und wir Lehrer fühlten uns mit Ihnen verantwortlich für die Erziehung und Bildung Ihrer Kinder. Dass es das Ziel eurer Lehrer an der EGG war, euch neben Wissen auch Werte und Weisheiten zu vermitteln und euch damit fit für das Leben zu machen, mögt ihr mir glauben.
Ihr alle, die Ihr gleich eure Zeugnisse bekommt, habt etwas geleistet und durch eure jeweilige Anstrengung auch zu den Leistungen der anderen beigetragen. Niemand lernt für sich allein, und wo Lernen an der EGG gelingt, sind immer viele beteiligt: die Lehrkräfte, die Klassengemeinschaft, in der sich konkurrierend aber hoffentlich ohne Konkurrenzdruck, im leistungsfördernden Wettbewerb aber normalerweise ohne bissige Rivalität etwas entwickeln kann.
Aus diesem Grund möchte ich auch in diesem Jahr stellvertretend für alle hier Sitzenden folgende Schüler mit den besten Abiturschnitten nach vorne bitten:
Lisa Klossek (1,0)
Lisa Bachmura (1,3)
Alina Skibbe (1,1)
Ich gebe euch stellvertretend für euch alle ein kleines Buchpräsent mit auf den Weg, in das ich – obwohl die Zeugnisse erst gleich verteilt werden – folgende Zeilen hineingeschrieben habe:
„Herzlichen Glückwunsch zum besten Abitur an der EGG im Abschlussjahr 2020. Ich wünsche dir viel Erfolg und Gottes Segen auf deinem weiteren Weg – Dein Schulleiter, Volker Franken“
Das Buch: „Eine kleine Geschichte des Abiturs“ soll euch an den heutigen Tag der Ausgabe der Abiturzeugnisse erinnern.
Und selbstverständlich hätte ich auch aus diesem Buch einen Ansatzpunkt für eine Abiturrede finden können, denn Karl Marx ist vor nunmehr 200 Jahren geboren worden und von seiner Abiturprüfung handelt das erste Kapitel dieses Buches. Er musste damals noch sieben schriftliche Arbeiten abliefern und sieben mündliche Prüfungen absolvieren, zu denen auch drei Übersetzungen vom Deutschen ins Lateinische bzw. Französische gehörten als auch die Übersetzung eines griechischen Textes ins Deutsche. Im Fach Geschichte behandelte der junge Karl Marx die Frage, ob die Regierungszeit des Kaisers Augustus mit Recht zu den glücklicheren Epochen des Römischen Reiches gezählt werden könne. Übrigens fielen von den 32 ausnahmslos männlichen Abiturienten im Jahrgang von Marx zehn durch die Prüfung, eine Quote wie wir sie an der EGG hoffentlich niemals erleben werden.
Auch ihr seid jetzt ein Teil der „Geschichte des Abiturs“ und das wollen wir mit gutem Grund heute feiern.
In diesem Sinne verabschiedet sich die EGG in Dankbarkeit und Respekt von ihren Schülerinnen und Schülern und deren Eltern. Genießt diesen Tag und bleibt uns über diesen Tag hinaus verbunden!
Danke!