Abschlussrede
2022 für den Jahrgang 10
Als
Schulleiter der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck
begrüße ich sie alle herzlich zur diesjährigen
feierlichen Zeugnisübergabe unseres Abschlussjahrgangs 10.
Ungewöhnlich für mich immer noch, weil wir dies nach vielen
Veränderungen in den letzten Jahren der Coronapandemie weiterhin
in zwei Gruppen getrennt und nicht – wie zuvor - als
Gesamtjahrgang begehen, da wir in dieser Veränderung eher eine
Stärke als einen Nachteil gesehen haben. Wir setzen uns also
über den Status Quo Bias hinweg, der besagt: Bestehendes wird
gegenüber Neuem bevorzugt.
Und
deshalb umso mehr: Alle Menschen, die heute bei uns sind, haben einen
Grund gemeinsam zu feiern. Ich begrüße also die
Schülerinnen und Schüler unseres neunzehnten
Abschlussjahrgangs in der Sekundarstufe I mit ihren Familien oder
Freunden sowie Teile des Kollegiums – Herzlich willkommen!
Beginnen
möchte ich meine Abschlussrede mit einem Zitat:
„Die
heutige Jugend ist von Grund auf verdorben,
sie
ist böse, gottlos und faul,
sie
wird niemals so sein, wie die Jugend vorher,
und
es wird ihr niemals gelingen,
unsere
Kultur zu erhalten“
Und
nein: Dieses Zitat stammt nicht aus einem aktuellen Zeitungskommentar
oder einer Politikerrede der letzten Monate, in der beklagt wird,
dass ihre Kinder wegen des Unterrichtsausfalls in Phasen des
Lockdowns viel zu wenig gelernt haben, nein: Das Zitat stammt aus
einer babylonischen Steintafel, deren Alter auf mindestens 3000 Jahre
geschätzt wird.
Es
gibt also durchaus Anlass zur Hoffnung!
Und
das besonders, da ihre Kinder, sofern sie weiterhin an der EGG
verbleiben werden, nach den Sommerferien mit schulischen iPads
ausgestattet sein werden, also auch bei einem erneuten, sogenannten
„Lernen auf Distanz“, dem weiteren schulischen Lernen
kaum mehr Steine in den Weg gelegt sein werden. Und dies wird
übrigens nicht nur für die Schüler:innen der
Oberstufe, sondern für alle Schüler:innen an der EGG
gelten.
Ich
sprach gerade bewusst von dem schulischen Lernen, denn das Lernen an
sich lässt sich überhaupt nicht vermeiden. Und das ist auch
keine neue Erkenntnis, denn Wilhelm von Humboldt hielt bereits vor
200 Jahren fest:
„Bilde
dich selbst! Und dann wirke auf andere durch das, was du bist.“
Hiermit
verbunden war im alten Preußen der durchaus hehre Wunsch, dass
sich die schulische Bildung nicht nur auf Wissensvermittlung
beschränken solle, sondern der persönlichen Entfaltung eine
besondere Bedeutung zu verleihen habe.
Und
etwas Bildung gehört immer auch in die Abschlussrede des
Schulleiters hinein: was es dieses Mal ist, das habe ich eingangs
bereits mit dem Beispiel der „Status Quo Bias“
angedeutet. Unter Bias versteht man in der Psychologie mentale,
menschliche Faustregeln. Erforscht wurden mittlerweile mehr als 100
solcher kognitiver Verzerrungen (Bias). Dies ist so entscheidend,
dass man in der modernen Psychologie den Menschen nicht mehr als
rationales Wesen betrachtet, denn selten handelt er auf der Basis von
Wahrscheinlichkeiten und Statistiken. Hier geht man eher von einer
„begrenzten Rationalität“ aus.
Das
ist nicht automatisch schlecht, denn: Wie sollen Menschen in jeder
Situation relevante Fakten finden und kühl auswerten? In grauer
Vorzeit wäre es Homo Sapiens nicht gut bekommen, wenn er bei
einem Rascheln im hohen Gras zu einer Doktorarbeit über die
statistische Häufigkeit spezifischer Tarnmanöver und
Jagdstrategien des Säbelzahntigers im semiariden Savannenland
angesetzt hätte, statt so schnell wie möglich wegzurennen.
Flucht im Angesicht raschelnden Grases war eine sinnvolle,
lebenserhaltende Reaktion. Lieber ein paar Mal Fehlalarm, als einmal
aufgefressen zu werden.
Heute
sollte man (und frau natürlich auch) über unsere –
das heißt immer auch die eigene - begrenzte Rationalität
jedoch zumindest Bescheid wissen, denn diese hat Auswirkungen auf
unser Verhalten und das innerhalb unserer Gesellschaft. Deswegen hier
einige empirisch belegte Forschungsergebnisse:
Bestätigungsfehler
(confirmation bias): Neigung, Informationen so zu interpretieren,
dass sie scheinbar zu den eigenen Überzeugungen und
Grundannahmen passen.
Grundlage einer Interpretation sind also nicht die Fakten, sondern
die eigenen Wünsche.
Verfügbarkeitsbias:
Was einem als erstes in den Sinn kommt, gilt automatisch als
wahrscheinlich. Was gedankliche Mühe kostet, gilt oft
automatisch als weniger wahrscheinlich und glaubhaft.
Ankereffekt:
Wer als erstes ein Angebot oder eine erste Forderung formuliert hat
damit einen Anker geworfen, also einen Bezugsrahmen gesetzt.
Erforscht wurde das am Beispiel des Gerichts. Fordert ein
Staatsanwalt ein gewisses Strafmaß, richtet der Richter seine
Entscheidung automatisch daran aus. Es ist also von Vorteil erst
solo ein Urteil zu fällen und aufzuschreiben, bevor eine Partei
eine Forderung aufstellt.
Der
oft falsche Gedanke: „Alles was schiefgehen kann, wird auch
schiefgehen“ heißt Murphy’s Law
Status-Quo-Bias:
(wie eingangs erwähnt): Bestehendes wird gegenüber Neuem
bevorzugt.
In
diesem Sinne hoffe ich, dass euch die letzten Jahre an der EGG
qualifiziert haben, auch für euer weiteres berufliches Leben
Wichtiges von Unwichtigem und Richtiges von Unrichtigem besser
unterscheiden zu können. Vielleicht hilft es dabei ja doch, sich
hin und wieder über die Macken des eigenen Denkens bewusst zu
werden und zu akzeptieren, dass man selbst ebenfalls nicht mit der
Gabe der objektiven Wahrnehmung gesegnet ist.
Auch
beruflich ist für eure Generation eher Ungewissheit
prognostiziert. Aus der Wissenschaft wird hierzu festgestellt, dass
die meisten heutigen Schulabgänger, während ihres
Berufslebens mindestens 3-4 Mal ihren Beruf aufgrund der
Schnelllebigkeit unserer Zeit wechseln werden und viele von euch in
10 Jahren in Berufen arbeiten werden, die es heute noch gar nicht
gibt. Um diese Zukunft meistern zu können, muss man eine
Fähigkeit besonders ausgeprägt gelernt haben, nämlich
die das ganze Leben lang zu lernen.
Zum
lebenslangen Lernen gehört auch die Fähigkeit mit anderen
zusammen zu arbeiten. Hinzu kommen eine positive Einstellung zum
Lernen und zum Leben, die Bereitschaft Risiken einzugehen und Fehler
nicht als etwas Schlimmes, sondern als Hilfe auf dem weiteren Weg zu
betrachten. Wir hoffen, dass wir euch an der EGG mit diesen
Fähigkeiten und mit diesen Kompetenzen ausgestattet haben.
Zur
Freude einiger Kolleginnen und Kollegen führt die Art der
heutigen Feier natürlich auch zu einer maximalen Sprechzeit für
die Abschlussrede des Schulleiters, was mir nicht ganz leichtfällt
und was ich auch keineswegs so gut beherrsche wie ein anderer
bekannter Schulleiter, den ich an dieser Stelle zitieren möchte:
„Willkommen!“,
rief er. „Willkommen zu einem neuen Jahr in Hogwarts. Bevor wir
mit unserem Bankett beginnen, möchte ich ein paar Worte sagen.
Und hier sind sie: Schwachkopf! Schwabbelspeck! Krimskrams! Quiek!
Danke sehr! Und er nahm wieder Platz.“
Das
ist wahrhaftig kurz, so kurz, dass ich mich mit Hogwarts – als
ich das Zitat vor 2 Jahren erstmals verwandte – gerne bei der
Abiturrede 2023 für diesen Jahrgang noch einmal genauer
beschäftigen werde, zumindest hatte ich das seinerzeit so
angekündigt.
Unabhängig
davon, ob sich unsere Wege nun trennen oder noch einige Jahre weiter
gehen werden, wünsche ich euch, dass eure Zeit an der EGG
irgendwann rückblickend zu den guten Zeiten eures Lebens gehören
mag und dass ihr weitere gute Zeiten folgen mögen. Ihr habt
diese Schule mit Leben gefüllt, euer Geist und eure Fröhlichkeit
haben sie mitgeprägt. Ich sage im Namen der EGG: Herzlichen Dank
!
Bei
Ihnen, liebe Eltern, bedanke ich mich für das geschenkte
Vertrauen, für kritische Fragen, ermutigende Rückmeldungen
und für alle Unterstützung in den letzten (zumeist) 6
Schuljahren ihrer Kinder. Vielleicht
möchten Sie auch zukünftig zu besonderen Veranstaltungen
eingeladen werden (Konzerte, Feste); dafür geht während der
Feierlichkeiten eine Liste herum, in der sie sich mit ihrer
Mailadresse eintragen können und gezielt eingeladen werden. Auch
meine Rede kann – wie immer und garniert mit einigen Fotos
dieses Jahrgangs - auf unserer Homepage, dann bereits unter Ehemalige
und dann Abschlussfeiern Jahrgang 10 – nachgelesen werden.
Euch,
liebe Kolleginnen und Kollegen – und damit sind insbesondere
die Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer der letzten sechs (vier oder
zwei) Schuljahre gemeint – danke ich für das andauernde
Engagement, den Langmut und die Freundlichkeit mit der ihr eure
Schülerinnen und Schüler in den letzten Jahren begleitet
habt.
Ich
möchte zum Ende meiner Rede hin stellvertretend für alle
hier Sitzenden die Schüler:innen nach vorne bitten, die in
diesem Jahrgang das beste Zeugnis ihres Anschlusses erzielt haben und
denen ich als Widmung in das Buchpräsent geschrieben habe:
„Herzlichen
Glückwunsch zum besten Zeugnis deines Jahrgangs im Abschlussjahr
2022. Ich wünsche dir viel Erfolg und Gottes Segen auf deinem
weiteren Weg.“ Dein Schulleiter, Volker Franken
Gruppe:
10a:
Noah Kacir
10b:
Nina Ozheshko
10e:
Noah Szalay
Gruppe:
10c:
Maximilian von Cieminski
10f:
Bektas Armut + Michelle Schön + Fabian Twiehoff
Die
EGG verabschiedet sich in Dankbarkeit und Respekt von ihren
Schülerinnen und Schülern und deren Eltern, von denen uns
wie wir wissen auch viele für weitere Jahre erhalten bleiben.
Genießt diesen Tag. Es ist im Leben nicht oft so, dass man an
einem lange angestrebten Ziel angekommen ist.
Zum
Ende der Rede hin bin ich dann nochmals schwach geworden und muss sie
– weil’s so schön ist – mit einem Zitat
abschließen und habe dafür übrigens auch eine Bias
ausgewählt, nämlich den Rhyme-as-a-reason-Effekt, nach dem
Gereimtes eher als wahr empfunden wird als Ungereimtes – also:
Herrmann Hesse
„Wie
jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem
Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht
jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu
ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es
muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit
zum Abschied sein und Neubeginne,
Um
sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In
andre, neue Bindungen zu begeben.
Und
jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der
uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Herzlichen
Dank für ihre Aufmerksamkeit.